Gesetzlicher Kontext "Kindeswohlgefährdung" - Erläuterung
Vorbemerkung
Auch der mit der Reform des Kinder- und Jugendhilferechtes 1991 verbundene Perspektivenwechsel hat die Kinder- und Jugendhilfe nicht aus ihrer Verantwortung für den Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl entlassen. Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es deshalb, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, dass sie in ihrer Entwicklung durch den Missbrauch elterlicher Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden erleiden. Bereits § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII nennt den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl als Ziel der Kinder- und Jugendhilfe.
Vor dem Hintergrund der primären elterlichen Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) bedeutet dies, dass das Handlungsinstrumentarium der Jugendhilfe nicht nur auf Hilfen beschränkt sein kann, über deren Inanspruchnahme die Eltern entscheiden können, sondern auch Befugnisse zum Schutz von Kindern umfassen muss, die mit Eingriffen in die Rechtsposition (der Eltern) verbunden sind und damit nicht den Kriterien von Sozialleistungen entsprechen. Scheitern Beratung und Unterstützung, so ist das Jugendamt verpflichtet, von Amts wegen und ggf. ohne Zustim- mung der Eltern Maßnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen oder zu initiieren, die aus der Perspektive der Eltern als Entlastung, aber auch als Eingriff oder Kontrolle empfunden werden. Durch die von der Kinder- und Jugendhilfe wahrzunehmende Garantenstellung unterscheidet sich die Jugendhilfe von allen anderen Sozialleis- tungsträgern.
Im Rahmen der Novellierung des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) ist der „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ durch den neu eingefügten § 8a SGB VIII mit Wirkung zum 01.10.2005 konkretisiert worden. Der § 8 a ist als grundsätzliche Vorschrift in das erste Kapitel des Kinder- und Jugendhilfegesetztes eingefügt und damit nicht eine so genannte „andere Aufgabe“, sondern Leitprinzip für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe.
Mit dem "Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzs von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz - BKiSchG" zum 01.01.2012 sind verschiedene Präzisierungen und Erweiterungen zur Umsetzung von Verfahrensstandards erfolgt.
Da das Gesetz nur die Träger der öffentlichen Jugendhilfe unmittelbar verpflichten kann (§ 3 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe aber die Leistungserbringung in erheblichem Umfange in Einrichtungen und Diensten nicht-staatlicher (freier) Träger erfolgt, wird in § 8a Abs. 2 Satz 1 den Trägern der öffentli- chen Jugendhilfe aufgegeben, die Träger der Freien Jugendhilfe in die Pflicht zu nehmen und entsprechend mit ihnen Vereinbarungen abzuschließen.
Damit ist ein weiteres Merkmal der “Eignung“ hinzugekommen. Die Träger haben daher als Teil einer sachgerechten Aufgabenerfüllung den Schutzauftrag mit wahrzunehmen. Hierfür weist das Gesetz dem öffentlichen Jugendhilfeträger einen Sicherstellungsauftrag (§ 97 Abs. 1 SGB X) und damit Überprüfungsbefugnis zu.
Dieser Handlungsleitfaden richtet sich daher an alle Fachkräfte2 der Jugendhilfe gemäß § 72 SGB VIII. Obwohl der § 72 SGB VIII nur die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, bestimmt er indirekt auch die Praxis der freien Jugendhilfe, da sowohl im Rahmen der Förderung (§ 74 Abs. 1SGB VIII) und der Anerkennung (§ 75 Abs.1) als auch bei der Kostenübernahme aufgrund einer Inanspruchnahme von Einrichtungen der freien Jugendhilfe im Einzelfall (§ 77 SGB VIII) von gleichwertigen fachlichen Standards ausgegangen wird.
Dies gilt in besonderer Weise für den Abschluss von Leistungsvereinbarungen gem. § 78 b Abs. 1 SGB VIII.
Der Handlungsleitfaden1 bietet eine Orientierung und Arbeitshilfe für die Fachkräfte2 der öffentlichen und freien Jugendhilfe.
Da es sich bei „gewichtigen Anhaltspunkten“ und „Kindeswohlgefährdung“ um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die auf Dauer nur empirisch über die Rechtssprechung gefüllt werden können, soll dieser Handlungsleitfaden außerdem eine Annäherung an die Definition, Auslegung und Anwendung der Rechtsbegriffe bieten.
Die Lebensrealität vernachlässigter Kinder ist geprägt von chronischer Unterernährung, unzulänglicher Bekleidung, mangelnder Versorgung und Pflege, fehlender Gesundheitsvorsorge, unbehandelten Krankheiten und gesteigerten Unfallgefahren sowie von Gewalterfahrungen im physischen und psychischen Bereich. Diese Kinder werden ohne die notwendigen Versorgung, Betreuung, Zuwendung und Anregung allein gelassen und damit Gefahren ausgesetzt, die zu irreparablen Schädigungen führen können. Dabei ist es ein besonderes Problem, dass die Lebens- und Leidenssituation der von Vernachlässigung bedrohten oder betroffenen Kinder gerade bei Säuglingen und Kleinkindern (noch wesentlich stärker als bei Schulkindern) im Privatbereich der Familie verborgen sind und verborgen bleiben können. Die Folgen von Vernachlässigung, gerade im Säuglings- und Kleinkindalter, sind gravierend und bestimmen durch ihre Nachhaltigkeit bei älter werdenden Kindern breite Handlungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe. Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung eines Kindes hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.
Das Alter der Kinder und Jugendlichen sowie die spezielle Organisationsform des Trägers sind bei der Umsetzung des § 8a Abs. 2 SGB VIII daher zu berücksichtigen und verlangen unterschiedliche standardisierte Interventionsstrategien und Hilfen, die mit diesem Handlungsleitfaden zur Verfügung gestellt werden. Dies mit dem Ziel, im Interesse der betroffenen Minderjährigen, unter Wahrung größtmöglicher pädagogischer Handlungsspielräume, und für alle Leistungsbereiche des SGB VIII fachliche Standards zur Kindeswohlsicherung zu gewährleisten. Darüber hinaus sollen die Standards dieses Handlungsleitfadens Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen wie auch der freien Träger vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen ihres Handelns schützen. Letzteres in den beiden denkbaren Dimensionen der „Unterlassung notwendiger Schutzmaßnahmen“ auf der einen Seite und möglicher „Überreak- tion“ auf der anderen Seite.
Dieser Handlungsleitfaden berücksichtigt das Erfordernis eines wechselseitigen Datenflusses zwischen den Fachkräften der freien Träger und den Fachkräften des Jugendamtes.
Deshalb finden auch die hierbei zu berücksichtigenden datenschutzrechtlichen Aspekte durchgängig Beachtung. Die Frage nach dem erforderlichen, aber auch zulässigen Umfang, Anlass sowie der Art der zu übermittelnder personenbezogener Daten wird daher durchgängig in diesem Handlungsleitfaden aufgenommen.
1 Für die Erstellung des Handlungsleitfadens wurden unterschiedliche Quellen verwendet, die im Anhang aufgeführt sind. Teil- weise wurden Zitate übernommen, die nicht als solche gekennzeichnet wurden, da es sich hierbei um eine praxisbezogene Arbeitshilfe handelt. 2 Fachkräfte im Sinne des § 72 SGB VIII sind Personen, die „eine der jeweiligen Aufgabe entsprechende (päd.) Ausbildung“ besitzen
Gesetzliche Prioritäten
Für die Interessenabwägung zwischen Elternrechten und gesetzlichen Schutzpflichten der Kinder- und Jugendhilfe hat der Gesetzgeber folgende Priorität festgelegt:
- Grundrechte / SGB VIII
- Tatbestandsmerkmale der Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB (Gefährdung des Kindeswohls)
- Garantenstellung des Jugendamtes
- Sozialgeheimnis bzw. Sozialdatenschutz, besonderer Vertrauensschutz und Schweigepflicht
- Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
- Datenübermittlung im Kontext Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
Grundrechte / SGB VIII
An erster Stelle steht das Grundrecht (Art. 2 GG) des Kindes auf freie Entfaltung sei- ner Persönlichkeit. § 1 Abs. 1 SGB VIII konkretisiert dies durch die Festlegung auf das Recht jedes jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erzie- hung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. An zweiter Stelle steht das „na- türliche Recht“ der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder, das im selben Satz allerdings auch die ihnen „zuvörderst (…) obliegende Pflicht“ bestimmt, welche die elterliche Verantwortung zur Sicherung des Kindeswohls impliziert. Auch diese Vor- schrift präzisiert ein Grundrecht, nämlich den Schutz der Familie gem. Art. 6 GG. Entsprechend den Intentionen des SGB VIII folgt daraus, dass zunächst den Eltern bei der Erhaltung und/oder (Wieder-) Herstellung ihrer Erziehungsfähigkeit und damit bei der Wahrung ihrer natürlichen Elternrechte geholfen werden soll. Gelingt es im Rahmen der Beratung und Unterstützung, die Kompetenz der Eltern zu stärken, er- übrigt sich aus rechtlicher Sicht ein weitergehendes Eingreifen. Die insoweit durch § 1 SGB VIII gebotene Hilfe wird im ersten und zweiten Kapitel des SGB VIII ausführ- lich normiert. Erst im dritten Kapitel „Andere Aufgaben der Jugendhilfe“ werden in § 42 die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen und weitergehende Eingriffs- maßnahmen, die auch ohne die Zustimmung der Personensorgeberechtigten getrof- fen werden können, geregelt.
Mit der Einführung des § 8a SGB VIII hat der Gesetzgeber den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung präzisiert. Für die Wirksamkeit der staatlichen Wächterfunkti- on des öffentlichen Jugendhilfeträgers ist das Zusammenwirken der gesetzlich Ver- pflichteten grundlegend.
Tatbestandsmerkmale der Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB (Gefährdung des Kindeswohls)
Eine Kindeswohlgefährdung nach den gesetzlichen Vorgaben des § 1666 BGB liegt dann vor, wenn Kinder durch
- Misshandlung,
- Vernachlässigung (körperlich, seelisch, geistig),
- oder durch Missbrauch (sexueller oder anderer Art)
.
in ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Entwicklung gegenwärtig erheblich gefährdet sind bzw. wenn Verletzungen und Schädigungen des Kindeswohls bereits eingetreten sind und die schädigenden Einflüsse fortdauern.
Die Gefährdung oder Verletzung des Kindeswohls wird durch elterliches Verhalten bzw. Unterlassen angemessener Fürsorge oder durch Verhalten Dritter verursacht:
- Schuldhaftes oder schuldloses Handeln der Eltern: Missbrauch des Sorgerechts,
- schuldhaftes oder schuldloses Unterlassen: Vernachlässigung,
- die Eltern sind nicht bereit oder nicht in der Lage, ein Kind gefährdendes Ver-
- halten Dritter zu unterbinden.
.
Besteht eine Gefährdung durch Dritte, kann das Gericht nach § 1666 Abs. 4 BGB auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen solchen Dritten treffen. Das Tun oder Unterlassen der Sorgeberechtigten muss daher nicht zwingend schuldhaft sein, sondern kann auch in einem nicht schuldhaften Erziehungsverhalten begründet sein (Primat des Finalprinzips vor dem Kausalprinzip). Nicht erforderlich ist hierbei der Nachweis einer bereits eingetretenen Schädigung. Es genügt die Wahrscheinlichkeit des Eintritts (subjektive Gefährdung), die jedoch anhand objektiver Merkmale (z. B. durch den in der Vereinbarung nach § 8 a beigefügten Kinderschutzbogen mit den dazugehörigen Dimensionen der Gefährdung) festzustellen ist. Die Infragestellung von Mindestanforderungen an die Erziehungsfähigkeit der Personensorgeberechtigten kann daher nicht willkürlich, sondern nur anhand zu objektivierender Anhalts- punkte erfolgen.
Um das Kindeswohl besser schützen zu können, hat der Gesetzgeber den Schutzauftrag präzisiert. In der Rechtsgüter-abwägung muss fallbezogen entschieden und bei akuter Gefährdung unter Umständen gegen den Willen der Personen-sorgeberechtigten gehandelt werden. Dabei gilt nach Art, Umfang, Dauer und Qualität der Maßnahmen nach § 8a SGB VIII der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der staatliche Eingriff in den verfassungsrechtlich geschützten Bereich der Familie geschieht, wenn die Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen. Dann geht es um die Abwendung einer bereits „eingetretenen Gefahr“. Die Entscheidung über die Maßnahmen, die zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich sind, hat grundsätzlich das Familiengericht zu treffen. Das Jugendamt trifft in diesem Fall nur vorläufige Entscheidungen (s. hierzu auch § 42 SGB VIII), ist aber nicht befugt, Maßnahmen durchzuführen, die unveräußerliche Grundrechte der Familie antasten.
Garantenstellung des Jugendamtes
„Normadressat zur Durchführung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung (im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramtes) sind die Jugendämter bzw. die fallzuständigen Fachkräfte des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD). Sie haben damit die Position, eine maßgebliche Entscheidung über den weiteren Verlauf des gefährdenden Geschehens zu treffen.“3
Der Garantenstellung ist die Aufgabe zugewiesen, verantwortliche Personen zu definieren, die ein schädigendes Ereignis für das Kind abzuwenden haben. Garantenstellung meint die tatsächlichen Umstände, aus denen sich eine Rechtspflicht zum Handeln ergibt, nämlich die Pflicht zum Tätigwerden für das Rechtsgut „Leben und Gesundheit des Kindes“.
Im Strafrecht wird nach Begehen und Unterlassen unterschieden. Bei der Unterlassung wird wiederum nach echter Unterlassung (z. B. unterlassene Hilfeleistung bei einem Unfall) und unechter Unterlassung unterschieden. Bei der unechten Unterlassung war derjenige, der eigentlich etwas hätte tun müssen, als Garant zur Abwendung des „Erfolgs“4 im strafrechtlichen Sinne verpflichtet.
Derjenige, der strafrechtlich als Garant verfolgt wird, sieht sich mit einem Unterlassungsvorwurf konfrontiert, und zwar mit dem Vorwurf, Handlungen und Maßnahmen unterlassen zu haben, die den tatbestandsmäßigen Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können.
Eine Garantenstellung hat nie eine ganze Behörde, z. B. das Jugendamt, sondern eine einzelne Person/einzelne Fachkraft (u. U. einschl. Leitung).
Die strafrechtlichen Anforderungen, die an Sozialarbeit gestellt werden, sind auch wichtige Faktoren für das Qualitätsmanagement in der Jugendhilfe. Die Institution „Jugendamt“ muss Rahmenbedingungen schaffen, um der Aufgabe nachzukommen.
§ 1 Abs. 2 Sozialgesetzbuch VIII (KJHG) stellt in wortgleicher Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz neben die vorrangige elterliche Erziehungsverantwortung das auf Gefahrenabwehr und damit auf den Schutz des Kindeswohls ausgerichtete und begrenzte Wächteramt des Staates (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung).
Ist die Eingriffsschwelle dieses staatlichen Wächteramtes im Sinne der §§ 1666/1666 a BGB überschritten, weil eine Gefahr für das körperliche, geistige und/oder seelische Wohl eines Kindes besteht, hat das betroffene Kind einen Anspruch darauf, dass die Jugendhilfe dieses Wächteramt auch tatsächlich ausübt und damit der ihr gesetzlich zugeschriebenen Schutzfunktion gerecht wird.
Der Schutzauftrag allerdings kommt nicht aus dem § 8 a SGB VIII selbst. Das Gesetz schafft keine neue Rechtslage, sondern formuliert den Schutzauftrag im Sinne einer Verfahrensvorschrift aus. In diesem Rahmen muss das Jugendamt für ein geordnetes Verfahren sorgen. Ein Ablaufprogramm ist damit verpflichtend. Es besteht kein Handlungsermessen, sondern das Gefährdungsrisiko bei (Verdacht auf) Kindeswohlgefährdung muss abgeschätzt werden.
Eine der größten Herausforderungen sozialarbeiterischen Handelns vor dem Hintergrund des staatlichen Wächteramtes der Jugendhilfe stellt somit die Einschätzung und Diagnostik eines Gefährdungsrisikos für Kinder und Jugendliche dar. Risikoeinschätzungsinstrumente sind dafür ein notwendiges Hilfsmittel, können jedoch die jeweilige Einzelfallentscheidung auf der Grundlage einer individuellen Einschätzung, Bewertung und Gewichtung nicht ersetzen. Sie sind aber geeignet und notwendig, die zu treffende Entscheidung fachlich zu fundieren. Im Ergebnis wirken solche Instrumente auf dieser Grundlage einer rein subjektiven Beliebigkeit im Entscheidungsprozess entgegen. Letztlich gilt es bei Fällen von Kindeswohlgefährdungen immer um die Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Fachkompetenzen.
Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Jede Maßnahme muss brauchbares Mittel zur Erreichung der von der Verfassung als vorrangig betonten Abwehr der Kindeswohlgefährdung darstellen. Handlungspflicht ist, die im Einzelfall geeigneten und notwendigen Hilfen zu leisten/Maßnahmen zu treffen und diese in einzelnen geregel- ten Verfahren (z. B. Hilfeplanverfahren) einzuhalten.
Im Gefährdungsfall ist abzuwägen zwischen einer (weiteren) Hilfe oder der Interen-tion (Handeln bei Gefahr im Verzuge/Einleitung einer familiengerichtlichen Anhörung bzw. Entscheidung). Grundsätzlich hat Hilfe Vorrang vor dem Eingriff (BVG-Urteil v. 29.09.1968(!): Grundsätzlicher Vorrang der Eltern. Grundsatz der Verhältnismäßig- keit). Aber die öffentliche Jugendhilfe und/oder der von ihr beauftragte Träger der freien Jugendhilfe ist verpflichtet, das körperliche, geistige und seelische Wohl von Kindern vor Rechtsgut verletzendem Verhalten der Eltern zu schützen. 3 Bringewat, Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 5/2006 4 „Erfolg“ bedeutet hier nach dem Strafrecht die Verletzung oder gar der Tod des Kindes
Sozialgeheimnis bzw. Sozialdatenschutz, besonderer Vertrauensschutz und Schweigepflicht
Da die Datenschutzregeln direkt nur für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe gelten, muss dieser nach § 61 Abs. 3 SGB VIII sicherstellen, dass der Datenschutz auch bei den Trägern der freien Jugendhilfe gewährleistet ist. Dies geschieht durch entsprechende Vereinbarungen, nach denen die freien Träger den gleichen Schutz der Sozialdaten wie der Träger der öffentlichen Jugendhilfe wahren. Sozialdaten dürfen daher nur im Rahmen der §§ 67 – 85a SGB X i.V.m. §§ 61 SGB VIII erhoben und verwendet werden.
Sozialdaten sind danach „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten Person“ (§ 67 SGB X).
Unter dem Begriff „persönliche Verhältnisse“ sind dabei Angaben über den Betroffenen selbst, seine Identifizierung oder Charakterisierung zu verstehen wie Name, Anschrift, Familienstand, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Konfession, Beruf, äußeres Erscheinungsbild, Charaktereigenschaften, Krankheiten, Überzeugungen u. ä., aber auch Werturteile zu verstehen.
Unter „sachlichen Verhältnissen“ werden Angaben über einen auf den Betroffenen beziehbaren Sachverhalt wie Grundbesitz, bewegliches Eigentum, Einkommen, Vermögen, vertragliche Beziehungen zu Dritten u. ä. erfasst.
Der Begriff Sozialdaten wird nur für Daten verwendet, die von einer der in § 35 SGB I genannten Stellen erhoben oder verwendet werden. Werden die Daten dagegen von einem freiten Träger erhoben oder verwendet, wird der Ausdruck „personenbezogene Daten“ benutzt. Der Einfachheit halber soll im Weiteren nur der Begriff „Sozialdaten“ benutzt werden.
Die Datenerhebung kann gemäß den Bestimmungen des § 62 SGB VIII erfolgen. Demnach können Daten bei Dritten auch ohne die Mitwirkung des Betroffenen erhoben werden. Der Absatz 3 Nr. 2 d ermöglicht die Erhebung von Daten im Kontext des § 8a SGB VIII, wenn die Personensorgeberechtigten bei der Risikoabschätzung bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nicht mitwirken. Der § 62 Abs. 3 Nr. 4 gilt vor allem zur Informationsgewinnung im Rahmen von Anhaltspunkten für einen sexuellen Missbrauch.
Es handelt sich daher gerade um die Ausnahme vom Grundsatz des Einbeziehens der Betroffenen.
Die Übermittlung von Sozialdaten an andere Stellen ist nur nach Maßgabe
- einer ausdrücklichen Einwilligung der Betroffenen,
- der §§ 68, 70 bis 78 SGB X oder des § 69 SGB X mit der einschränkenden Ergänzung des § 64 Abs. 2 und 2a zulässig.
Danach ist ein Sozialleistungsträger (hier öffentlicher oder freier Träger der Jugendhilfe) gemäß §§ 69 SGB X i. V. mit § 64 Abs. 2 und 2a SGB VIII befugt:
- Sozialdaten an eine andere öffentliche Stelle zu übermitteln, sofern dies zur Erfüllung seiner eigenen Aufgaben erforderlich ist,
- Sozialdaten an einen anderen Sozialleistungsträger auch dann zu übermitteln, wenn es zur Erfüllung dessen Aufgaben erforderlich ist,
- Sozialdaten an eine erfahrene Fachkraft, die der „verantwortlichen Stelle“ nicht angehört, zur Erfüllung des Schutzauftrages gemäß § 8a SGB VIII weiterzuleiten.
Die Sozialdaten sind in diesem Zusammenhang zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren5, soweit die Aufgabener-füllung dies zulässt. Die „verantwortliche Stelle“ in Punkt 3 ist die Stelle, in der die Daten vor der Übermittlung gespeichert sind.
Die Träger der Jugendhilfe sind über ihre direkte Verpflichtung zur Wahrung des Sozialdatenschutzes gehalten, die technischen und organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, die gewährleisten, dass ihre Mitarbeiter/innen die Pflichten zur Verschwiegenheit beachten.
- Die Mitarbeiter/innen der Träger der freien oder öffentlichen Jugendhilfe sind, sofern sie staatlich anerkannte Sozialarbeiter/innen oder Sozialpädagogen/innen sind, nach § 203 StGB an ihre berufliche Schweigepflicht gebunden.
- Die den Mitarbeiter/innen freier oder öffentlicher Träger, nicht nur den Angehörigen der genannten Berufsgruppen, zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfen anvertrauten Sozialdaten genießen den besonderen Vertrauensschutz des § 65 SGB VIII.
Bis zur Novellierung des SGB VIII und der Verabschiedung des KICK war eine Datenübermittlung gemäß § 65 SGB VIII nach einem Zuständigkeitswechsel innerhalb des Jugendamtes oder von einem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu einem anderen nur möglich,
- wenn die Personen, durch die Informationen anvertraut wurden, eingewilligt haben,
- die Anrufung des Familien- oder Vormundschaftsgerichts erforderlich war oder
- ein rechtfertigender Notstand im Sinne von § 203 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 StGB vorlag.
Durch die Gesetzesänderung des SGB VIII soll im Interesse eines effektiven Kinderschutzes gewährleistet werden, dass bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung Erkenntnisse nicht mehr verloren gehen, die für eine Risikoabschätzung wertvoll sind.
Von daher ist durch die Änderung des § 65 SGB VIII die Weiterleitung der Daten möglich
- an eine/n Mitarbeiter/in, der/die auf Grund eines Wechsels der Fallzuständigkeit im Jugendamt oder eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit für die Gewährung oder Erbringung der Leistung verantwortlich ist, wenn Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls gegeben und die Daten für eine Abschätzung des Gefährdungsrisikos notwendig sind, oder
- an die Fachkräfte, die zum Zwecke der Abschätzung des Gefährdungsrisikos nach § 8a hinzugezogen werden. Allerdings ist in diesem Zusammenhang die Regelung des § 64 Abs. 2 a SGB VIII zu beachten, dass in solchen Fällen die Daten zu anonymisieren bzw. zu pseudonymisieren sind, soweit die Aufgabenerfüllung dies zulässt.
5 Die Anonymisierung ist das Verändern personenbezogener Daten derart, dass diese Daten nicht mehr einer Person zugeordnet werden können. Bei der Pseudonomysierung wird der Name oder ein anderes Identifikationsmerkmal durch ein Pseudonym (z. B. mehrstellige Buchstaben- oder Zahlenkombination) ersetzt, um die Identifizierung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren (vgl. § 3 Abs. 6 Bundesdatenschutzgesetz).
Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung
§ 4, KGG BKiSchG:
1
Werden
- Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspfegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
- Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
- Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie
- Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
- Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfiktgesetzes,
- staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich an- erkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder
- Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen
.
in Ausübung ihrer berufichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
- Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fach-kraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu über-mitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren. - Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzu¬wenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen."
Datenübermittlung im Kontext Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
§ 8a, Abs. 5 SGB VIII (KJHG):
"Werden einem örtlichen Träger gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sind dem für die Gewährung von Leistungen zuständigen örtlichen Träger die Daten mitzuteilen, deren Kenntnis zur Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a erforderlich ist. Die Mitteilung soll im Rahmen eines Gespräches zwischen den Fachkräften der beiden örtlichen Träger erfolgen, an dem die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche beteiligt werden sollen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.